„Sitzen ist das neue Rauchen“ - Mit Stehtischen gegen die neue Volkskrankheit?
Experten sprechen schon seit geraumer Zeit von einer neuen Volkskrankheit: Rückenleiden, ausgelöst durch zu viel Sitzen. Mittlerweile hat das Thema seinen Weg aus den Fachzeitschriften in die Unterhaltungsmedien gefunden. So gab der Kabarettist, TV-Moderator und Mediziner Eckart von Hirschhausen beispielsweise kürzlich in der „Gala“ zu Protokoll, dass er Sitzen für das neue Rauchen halte. Ein gleichnamiges Buch, geschrieben von Dr. Kelly Starrett, avanciert zum Bestseller, während eine Studie der Mayo Clinic der Arizona State University herausgefunden hat, dass jede Sitzstunde die Lebenserwartung um 22 Minuten verringert. Kurz: Das Bewusstsein für gesunde Arbeitshaltung steigt – gleichzeitig verzeichnen die Hersteller von höhenverstellbaren Schreibtischen steigende Nachfrage. In der Tat können diese Möbel helfen, schädliche Sitzstunden zu sparen.
Beim Vergleich verschiedener Studien fällt auf, dass das populäre Motto: „Sitzen ist das neue Rauchen“ gar nicht stimmt. „Sitzen ist gefährlicher als Rauchen“, müsste es eigentlich lauten – würde damit nicht Tabakkonsum verharmlost werden. Auf die Auswirkungen auf die Lebenserwartung jedoch stimmt’s: Jede Zigarette verkürzt laut einer Studie das Leben um elf Minuten, wohingegen eine Stunde Sitzen das Leben nun um 22 Minuten verknappt. Also einfach zwei Kippen pro Arbeitsstunde weniger und der Gesundheit ist Genüge getan? So einfach ist es dann auch wieder nicht.
Ein Leben auf der Sitzfläche
Rund 17 Millionen Menschen in Deutschland verbringen ihren Arbeitstag auf einem Bürostuhl. Das besagt eine aktuelle Untersuchung der Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK). Hinzu kommen Berufe, die zwar ohne Schreibtisch, aber nicht ohne Sitzen auskommen: Fahrer im Speditionswesen oder Personenverkehr kennen das Problem ebenso wie Fachkräfte im Handel. Hinzu kommen zahlreiche Handwerksberufe, bei denen der Computer eine immer größere Rolle spielt und sich das Betätigungsfeld stetig von der Werkbank in Richtung Schreibtisch verlagert. Die Zahl dieser „Sitztäter“ beläuft sich der AOK zufolge auf mehrere Millionen – Studenten, Lehrlinge und Schüler noch nicht einmal mitgezählt.
Um’s kurz zu machen: Stetiges Sitzen beziehungsweise die negativen Folgen davon betreffen definitiv einen Großteil der deutschen Bevölkerung. Um die Tragweite des Problems zu erahnen, müssen also die meisten nur einen kritischen Blick auf ihren typischen Arbeitstag werfen. Dabei werden die meisten feststellen, dass sie nicht nur im Job, in der Uni oder am Steuer sitzen – sondern auch einen Großteil ihrer Freizeit auf dem Hosenboden verbringen.
Das folgende hypothetische Beispiel sollte dem Alltag vieler Deutscher deshalb sehr nahe kommen: Nach der Dusche gibt’s ein Frühstück am Tisch, die Tageszeitung im Sessel und die Fahrt zum Arbeitsplatz findet im Fahrersitz oder Bahnabteil statt. Schon vor dem Arbeitsbeginn lassen sich die gelaufenen Kilometer also meist an einer Hand abzählen. Auf das große Sitzen im Büro folgt dann die Heimreise im Sitzen, das Abendessen oder der Filmabend auf der Couch, am Computer oder mit dem Tablet auf der Sofalandschaft.
Auch aufs ganze Leben gesehen, wird stetig gesessen: Wo im Kindergarten noch Bewegung gefördert und auch eingefordert wird, werden Kinder ab dem ersten Schultag überwiegend zum Stillsitzen verdonnert, und zwar bis zum Abschlusszeugnis. Die Lehrzeit oder das Studium finden ebenso hauptsächlich auf Stühlen statt, ebenso wie das folgende Berufsleben. Mit dem Renteneintritt wäre dann theoretisch wieder Zeit und Raum für Bewegung, jedoch ist es dann meist schon passiert.
Die Folgen für den Körper
Wissenschaftler und Arbeitsmediziner sind sich einig: Etwas viel schlimmeres, als dauerhaftes Sitzen können wir unserem Körper kaum zumuten. Abgesehen davon, dass er ursprünglich auf stetige Bewegung ausgerichtet ist und Sitzen eine Zwangshaltung darstellt, kann man auch falsch sitzen: Wird’s zum Beispiel am Arbeitsplatz kompliziert, verfallen viele in eine vorgebeugte, starre und verkrampfte Pose, bei der die Skelettmuskulatur schwerste Haltearbeit verrichten muss.
Auch wenn die Kuh vom Eis, der stressige Teil erledigt und etwas Zeit für Entspannung ist, hat der Körper nicht weniger zu tun: Bei einer Sitzhaltung, die von den meisten als bequem empfunden wird, erschlaffen zum Beispiel die Bauchmuskeln. Da sie einen großen Teil dazu beitragen, das Skelett zu stützen, kommt es auf Dauer zum so genannten Rundrücken, was wiederum schlecht für die Bandscheiben ist. Die Bandscheiben – das sind gewissermaßen kleine Stoßdämpfer zwischen den einzelnen Wirbeln der Wirbelsäule – erhalten ihre Flexibilität durch stetige Bewegung. Einem Schwamm gleich nehmen sie dann Nährstoffe auf. Wer seinen Rücken gleich mehrere Stunden am Tag nicht bewegt, sorgt dafür, dass die Bandscheiben stellenweise austrocknen. Eine Folge davon ist der so genannte Bandscheibenvorfall.
Dass Rückenschmerzen auch ohne Bandscheibenvorfall auftauchen können, ist den aktuellen Statistiken zu entnehmen. Zu den Top-Ursachen für krankheitsbedingten Arbeitsausfall zählen in Deutschland derzeit Rückenerkrankungen. Die meisten davon sind allerdings nicht Schäden am Skelett oder am Bewegungsapparat, sondern entfallen auf verhärtete oder starr gewordene Muskulatur und ihre schmerzhaften Symptome.
Auch Organe werden durch regelmäßiges langes Sitzen beansprucht. Zwei Beispiele: Da der Kreislauf und der Stoffwechsel beim Sitzen auf „Standby“ fahren, drohen auf die Distanz Diabetes- oder Herz-Kreislauferkrankungen. Die abgewinkelten Knie und Hüften machen es dem Blut schwer, zum Herz zu gelangen. Daher sind Probleme mit den Venen die Folge.
Viele mögliche Lösungen
Natürlich können die wenigsten ihren Bürojob ihrem Rücken zuliebe an den Nagel hängen, und auch gegen einen gemütlichen Feierabend auf der Couch ist nichts zu sagen – sofern der Ausgleich stimmt. Es würde schon genügen, wenn der Körper vor oder nach einem Arbeitstag dem Zweck zugeführt wird, für den er ursprünglich gemacht ist. Experten empfehlen in diesem Zusammenhang gern folgende Faustregel: Fünf Minuten bewusste Bewegung für jede gesessene Stunde und der Schadenszähler steht auf Null.
Im Einzelfall mag das Maß anzugleichen sein. Aber wer sich nach einem Arbeitstag beispielsweise eine gute Dreiviertelstunde lang sportlich betätigt, der mach schon mal nichts verkehrt. Eine andere Faustregel, die sich auf den ganzen Tag anwenden lässt, ist nicht nur gut für den Rücken, sondern beugt praktisch auch allen chronischen Erkrankungen vor: die Zehntausend-Schritte-Regel. Wer – egal wo – über den Tag verteilt zehntausend Schritte geht, tut seinem Kreislauf, dem Rücken und den Organen etwas Gutes. Dabei zählt nicht nur der Spaziergang, die Wanderung oder die Joggingrunde um den Block, sondern buchstäblich jeder Schritt, der innerhalb von 24 Stunden gegangen wird.
Mehr Ausgleichsbewegung plus weniger Sitzen ergibt eine Lösung
Ausgleichssport beziehungsweise Ausgleichsbewegung ist also wichtig. Besser wäre es allerdings, gar nicht erst so viel zu sitzen, dass dadurch ein Problem erwächst. Dieses Ziel lässt sich auf verschiedenen Wegen erreichen: Es ließe sich etwa an den kleinen Stellschrauben des Alltags drehen. Ist das Wetter gut, lohnt es sich vielleicht, die U-Bahn links liegen zu lassen und das Fahrrad zur Arbeit zu nehmen. Für kurze Strecken empfiehlt sich ein flotter Fußmarsch, der den Stoffwechsel anregt und Sauerstoff ins Blut bringt. Der Lift im Bürogebäude oder im Mietshaus ist zwar bequem, das Treppenhaus aber eine kostenlose, täglich zur Verfügung stehende Trainingsanlage.
Auch im Büro gibt’s viele Möglichkeiten, die ständige Sitzerei zu unterbrechen. Das kurze Meeting mit den Kollegen kann durchaus im Gehen stattfinden, die Kaffeepause muss auch nicht unbedingt am Kaffeetisch stattfinden und der Drucker könnte auch so platziert werden, dass es pro Ausdruck auch ein paar Schritte auf den Zähler gibt. Das Nonplusultra in Sachen Sitzverkürzung wäre jedoch ein Tisch, an dem man nicht unbedingt sitzen muss.
Die Evolution vom klassischen Schreibtisch zum Stehtisch
Es könnte gut sein, dass man in früheren Zeiten schon geahnt hat, dass Sitzen nicht nur Vorteile hat. Es könnte aber auch sein, dass man generell eher ungern gesessen hat. Auf Bildern von Büros aus der Gründerzeit fällt immer wieder ein seltsames Möbel auf, das in modernen Büros praktisch nicht mehr vorkommt: das Pult. Um schwere Folianten beim Lesen nicht in der Hand halten zu müssen, hatte man vor allem in den herrschaftlichen Büros oder Lesezimmern gern einen Stehtisch, um dort vornehmlich Lese- und einfache Schreibarbeiten zu erledigen.
Mit den Jahren verschwand es und fand in einer modernen Version als Lesepult vereinzelt den Weg zurück an die Arbeitsplätze vornehmlich jener, die bereits Erfahrungen mit den unangenehmen Folgen des Sitzens machen mussten. Oder derer, die schlichtweg einen Platz schätzen, an dem sie stehend arbeiten könnten. Eine Fortentwicklung dessen beginnt gerade, durchaus in Zusammenhang mit den steigenden Zahlen der Rückengeschädigten, zum neuen Standard in modernen Büros zu werden: der Stehtisch.
Vom „corner office“ auf der Chefetage bis hin zum Großraumbüro werden diese stufenlos verstellbaren Alleskönner geschätzt – schließlich bieten sie die Möglichkeit, zwischen der sitzenden und der stehenden Tätigkeit abzuwechseln.
Wie funktioniert ein Stehtisch?
Die Betonung liegt auf Abwechslung. Es liegt auf der Hand: Die eine statische Haltung durch eine andere zu ersetzen, bringt nicht viel. Die echte Chance, die ein Stehtisch – oder, wie es korrekt heißen muss: ein höhenverstellbarer Schreibtisch – birgt, ist, dass sich das lange Sitzen praktisch zu jeder Zeit unterbrechen lässt. Dazu braucht es kein zweites Möbel, sondern einen einfachen Knopf am herkömmlich aussehenden Schreibtisch: die Arbeitsfläche wird damit per Knopfdruck nach oben gefahren.
Der Aufbau eines elektrisch höhenverstellbaren Schreibtischs ist an sich simpel: Die Tischplatte wird von zwei Standsäulen gestützt, deren Füße ausreichend dimensioniert sind, etwa in Form eines C-Fußes. In den Säulen befinden sich zwei Elektromotoren, die über ein Bedienfeld gesteuert werden. Mit ihnen lässt sich die Tischplatte samt den auf ihr befindlichen Geräten auf- und abfahren, wobei die meisten Modelle über ein Sicherheitssystem, einen so genannten Auffahrschutz verfügen. Er soll verhindern, dass Finger, Kabel oder Gegenstände gequetscht werden.
In den Tisch integrierte Kabelwannen ermöglichen eine saubere Kabelführung, so dass Monitor oder der Rechner nicht vom Tisch fallen, wenn die Tischplatte aufwärts gefahren wird. Je nach Ausführung können auch verschiedene Höhen einprogrammiert und auf Knopfdruck angesteuert werden. Die Vorteile eines solchen Allroundmöbels: Zwischen Sitzen und Stehen muss im Extremfall nicht einmal die Arbeit unterbrochen werden. Während manche es etwa bequemer finden, ihre Telefonate im Stehen zu führen, das Gesprächsprotokoll nachher aber im Sitzen auszufüllen, können ihren Workflow beibehalten.
Dabei helfen kann ein „Swopper”, eine Art gefederter Hocker, den es auch in einer Ausführung gibt, die höhenverstellbar ist. Im Sitzen ermöglicht dieses einem Joystick nicht unähnliche Sitzmöbel dynamisches Arbeiten. Durch einen Zug am Stellhebel fährt die Sitzfläche des Hockers in eine Höhe, die man vom Barhocker her kennt. So kann sie eine sinnvolle Ergänzung zum Stehtisch und eine gute Alternative zum klassischen Bürostuhl.
Ein Schritt auf dem Weg zum gesunden Arbeiten
Die Menge macht das Gift: Diese Faustregel gilt fürs Sitzen wie fürs Stehen. Wer sich einen Stehtisch zulegt und gleich zu Beginn ganze Arbeitstage in der Senkrechten verbringt, wird seinem Körper keinen allzu großen Gefallen tun. Außerdem befreit ein solches Möbel nicht von der unbedingten Notwendigkeit, nach Feierabend Sport zu treiben oder sich wenigstens eine Stunde lang zu bewegen. Ein ausgedehnter Spaziergang, eine Runde Joggen oder Schwimmen oder eine Weile auf dem Fahrrad oder Laufband bleiben ein sinnvolles und gesundes Kontrastprogramm zum Arbeitstag im Büro.
Vor allem, wer seit Jahren eine sitzende Tätigkeit ausübt, sollte anfangs Acht geben mit dem Stehen. Denn auch hier gelten die Grundsätze von sportlichen Übungen: Langsam Dauer und Anzahl der Wiederholungen steigern! Auf gut Deutsch: Die Gefahr eines so genannten Rundrückens nimmt durch stete Abwechslung ab – und nicht durch ein anderes Extrem. Vorsicht ist also geboten, übertriebene Hemmungen vor dieser neuen Form des Arbeitens aber unangebracht.
Wer nämlich auf seinen Körper hört, macht viel richtig. Wenn sich der untere Rücken meldet oder die Knie schmerzen, ist die Zeit gekommen, die Arbeitsplatte hochzufahren. Wenn sich nach einer Weile Müdigkeit bemerkbar macht, die Fußsohlen brummen, der Nacken schmerzt oder es in den Oberschenkeln kribbelt, ist wieder Zeit für eine Runde im guten alten Bürostuhl.